Östling, Johan; Heidenblad, David Larsson; Hammar, Anna Nilsson (Hrsg.): Forms of Knowledge. Developing the History of Knowledge. Lund 2020 : Nordic Academic Press, ISBN 978-91-88909-38-1 304 S. 235 kr

Grandin, Karl; Jülich, Solveig; Kärnfelt, Johan (Hrsg.): Knowledge in Motion. The Royal Swedish Academy of Sciences and the Making of Modern Society. Göteborg 2019 : Makadam förlag, ISBN 978-91-7061-263-3 656 S. SEK 530

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Mohnike, Département d’études scandinaves, Université de Strasbourg

Die hier zu besprechenden Bücher eint nicht nur das Wort „Wissen“ im Titel. Beide Publikationen stehen stellvertretend für eine Reihe von Studien der letzten Jahre, die das Feld der Wissenschaftsgeschichte neu konfigurieren möchten und dabei nicht nur auf die Produktion von Wissen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fokussieren, sondern stärker auf die Frage, wie Wissen in Gesellschaften zirkuliert und wie das Wissen der Wissenschaft an anderen Formen sozialen Wissens teilhat.1 In diesem Sinne tragen viele dieser Studien Begriffe wie „Bewegung“ (Motion) und „Zirkulation“ schon im Titel oder betonen die Vielfältigkeit von sozialem Wissen (Forms of Knowledge). Beide Bücher beziehen sich explizit oder implizit auf dieselben Theoretiker des Wissens, wie zum Beispiel James Secord, Michel Foucault, Philipp Sarasin oder Peter Burke, sind jedoch aus der Arbeit von zwei verschiedenen Forschungsgruppen entstanden. Knowledge in Motion entstand an der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm als Versuch, eine Geschichte dieser Wissenschaftsinstitution unter den genannten Vorzeichen zu schreiben; Forms of Knowledge versammelt Ergebnisse der Arbeit der Lundenser Forschungsgruppe zur Wissensgeschichte mit dem schönen Namen LUCK – Lund Centre for the History of Knowledge. Die letztgenannte Publikation ist einer von insgesamt drei Bänden, die die Gruppe in den letzten drei Jahren publiziert hat.2

Im Hintergrund der Beiträge beider Forschungsgruppen schwingt die Erfahrung mit, dass sich heute Wissen infolge der derzeitigen digitalen Medienrevolution verändert, weil sich die Grundlagen der Zugänglichkeit, der Infrastruktur, insbesondere der Speicherung und auch der Organisation der Wissensproduktion maßgeblich verändern. So, wie sich durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und – als Konsequenz – die Entstehung neuer Akteure und Institutionen wie Verlage, Buchhändler und Bibliotheken, die ihren Namen in einem modernen Sinn wahrhaft verdienten, sowie neue Kommunikations- und Vermittlungstechniken das Wissen und die Wissenschaft gewandelt haben, so werden heute durch die digitale Revolution grundlegend die medialen Bedingungen von Wissen verändert. Marshall MacLuhan sprach deshalb in seinem Buch The Gutenberg Galaxy3 schon 1962 vom „Electronic Age“, in welchem sich die Zugänglichkeit und der Austausch von Informationen radikal wandle, so dass es zu einer Restrukturierung der Formen des Wissens komme – eine These, die wir vielleicht heute erst richtig verstehen. So überrascht es nicht, dass es auch in den hier besprochenen Bänden zu einer Beschäftigung mit der Historizität von Wissen kommt, die von den Fragen dominiert wird: Wie wurde Wissen bisher produziert? Auf welche Weisen hängt es mit den gesellschaftlichen und medialen Gegebenheiten zusammen, welche Wissenstechniken gab es in der Vergangenheit und welche sind zukünftig denkbar? Wie verändert sich Wissen historisch, in welchen Formen, Medien und Orten manifestiert es sich?

Leider wird allerdings in keiner der Studien die eigene soziale, kulturelle und mediale Bedingtheit gründlich diskutiert und theoretisiert, sondern zu oft nur angedeutet. Auch wird der Wissensbegriff meist nur als produktive Kategorie des interdisziplinären Dialogs zitiert, als „umbrella term, bringing together researchers with different backgrounds and research interests in a joint conversation“ (S. 9f.). Dem Versuch einer Definition dessen, was Wissen denn nun eigentlich sei, wird ausgewichen, im Lundenser Band etwa durch den Verweis auf heute gängige Allgemeinplätze, wie etwa der historischen Wandelbarkeit (auch) des Wissensbegriffs. Das Interesse für Wissen und Wissensgeschichte wird als „integrative cluster“ gelobt, der die Gräben der Spezialisierung überwindet (S. 11). Damit ist aber nur etwas über die wissenschaftspolitische und -kommunikative Funktion des Begriffs gesagt, nichts über das, was Wissen und Wissensgeschichte sein könnten. Wissensgeschichte ist hier nur ein polysemisches Konzept im Sinne von Mieke Bal, das sein Interesse einzig daraus bezieht, dass es eben nicht definiert wird, sondern lediglich zur Dialogermöglichung gebraucht wird, indem es vor der Divergenz der Bedeutungen in verschiedenen Studien die Augen verschließt.4 Dies ist insofern bedauernswert, weil die Studien so zur möglichen Theoretisierung weniger beitragen als der Rezensent angesichts der Expertise und Belesenheit der Beitragenden erhofft hatte. Diese leichte Enttäuschung betrifft vielleicht mehr die Lundenser Arbeiten in Forms of Knowledge, die von den Herausgebern und Herausgeberinnen als innovative Probebohrungen präsentiert werden, als den Stockholmer Band Knowledge in Motion, da letzterer deutlicher in der traditionellen Wissenschaftsgeschichte verankert ist.

Die Lundenser Forschungsgruppe zur Wissensgeschichte LUCK – Lund Centre for the History of Knowledge publizierte bisher drei eigene Bände zu den Ergebnissen ihrer Forschung: Circulation of Knowledge (2018), Histories of Knowledge in Postwar Scandinavia (2020) und Forms of Knowledge (ebenfalls 2020). Die Gruppe hat es sich laut der den jeweiligen konzeptuellen und theoretischen Rahmen vorstellenden Einleitungsaufsätze zur Aufgabe gemacht, Wissensgeschichte zum einen als Wissensfeld in Skandinavien einzuführen, und dies zum anderen auch allgemein als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft weiterzuentwickeln. Sie nennt als Inspirationsquelle insbesondere die Arbeiten des Züricher Zentrums Geschichte des Wissens, das unter anderem von Philipp Sarasin geleitet wurde, sowie am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) entstandene Arbeiten um Lorraine Daston. Bei der Lektüre der aus ihrer Arbeit entstandenen Anthologien wird deutlich, wieviel Spaß und Inspiration in dem Ansatz steckt – insofern ist das Akronym LUCK ganz wunderbar gewählt. Die Beiträge in Forms of Knowledge untersuchen zahlreiche interessante Einzelaspekte. So fragt etwa Kajsa Brilkmans Einleitungskapitel, welchen Einfluss die Geschichte insbesondere christlicher Konfessionen auf die Geschichte von Wissen und ihrer Praktiken hat, und umgekehrt. Peter K. Andersson reflektiert die Grenzen der Wissenszirkulation durch Medien anhand von Rezeptbüchern; Maria Karlsson die Konstruktion von standardisiertem Wissen in der Wikipedia am Beispiel der Diskussionen im englischen Artikel zum Genozid an den Armeniern. Laura Skouvig diskutiert kritisch das Innovationspotential von Wissensgeschichte gegenüber der Informationsgeschichte, Erik Bodensten verfasste einen schönen Artikel über die Techniken der Verbreitung von Wissen über Kartoffeln und ihren Nutzen, Martin Ericsson über Wissen von „racial knowledge“ nach dem Krieg und den Einfluss der UNESCO, um nur einige der insgesamt 15 Kapitel zu nennen. Jede dieser Studien ist interessant, jedoch formen sie keine konzeptuelle Einheit, sondern sind nur verschiedene, für einen Außenstehenden recht willkürlich gewählte Fallstudien. Allerdings wird die konzeptuelle Ratlosigkeit, die den Rezensenten nach der Lektüre des Buches erfasst hat, durch einen wiederum sehr durchdachten Abschluss wunderbar zum Ausdruck gebracht. Die Herausgeberinnen und Herausgeber haben Staffan Bergwik und Linn Holmberg den Band zur Lektüre gegeben und um eine reflektierende Bilanz gebeten – eine sozusagen in das Buch eingebundene Rezension. Sie fassen dann auch auf 18 Seiten viele Kritikpunkte zusammen, die zukünftige Arbeiten zur Wissensgeschichte angehen müssen: insbesondere die theoretisch-methodische Komplexifizierung und die durchdachte Anbindung an und Abgrenzung zu Vorgängern wie der Ideengeschichte, Wissenssoziologie und so weiter. Hinzuzufügen wäre vielleicht die Anregung, das Konzept von Interdisziplinarität auszuweiten und über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinauszusehen: So wäre es vielleicht hilfreich gewesen, den Austausch mit einer anderen Lundenser Forschungsgruppe zu suchen, dem Centre for Innovation Research (CIRCLE), das seit vielen Jahren die Zirkulation von Wissen als Quelle von Innovation erforscht und beispielsweise verschiedene Formen des Wissens unterscheidet, die mehr oder weniger transportabel sind, wie etwa „tacit knowledge“ und „explicit knowledge“.5

Der zweite hier zur Besprechung vorliegende Band ist konzeptuell weitaus besser durchdacht, wenn auch vielleicht weniger ambitioniert. Knowledge in Motion entstand an der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm ursprünglich als eine Art Folgeband zu Sten Lindroths Kungl. Svenska vetenskapsakademiens historia 1739–1818 von 19676 und sollte zunächst wohl die Geschichte der Institution nach 1818 abdecken. Da sich, wie angedeutet, seit 1967 die theoretischen und methodischen Zugänge zur Wissenschaftsgeschichte durchaus geändert haben, erzählt der neue Band die Geschichte der Institution seit ihrer Gründung im Jahre 1739 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Diese Erzählung ist natürlich polyphon; sie untersucht die institutionellen, politischen, kulturellen und praktischen Rahmenbedingungen aus verschiedenen Blickwinkeln. Einleitend diskutiert Johan Kärnfeldt in einem interessanten Aufsatz den allgemeinen Forschungsansatz sowie die Bedingungen der Forschung anhand der Geschichte des Archivs, die er fast zeitgleich mit der Etablierung der Institution datiert. Anlässlich der ersten regulären Sitzung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften hatte nämlich einer ihrer Gründer, Anders Johan von Höpken, der Akademie ein „bureau“ vermacht, das zur Aufbewahrung ihrer Dokumente dienen sollte. Zugleich wurde, wie es die Statuten vorgaben, ein Archivar bestimmt. Diesem Archiv wurde zudem recht bald eine Bibliothek beigestellt, welche Kärnfeldt zusammengenommen als die Keimzelle dessen identifiziert, was heute das Center of History of Science der Akademie ist – und damit jene Institution, die zum einen das vorliegende Buch produzierte, zum anderen die primäre Quelle des Wissens in Schweden darstellt. Nebenbei bemerkt präsentiert das Buch neben den inhaltlichen Analysen zudem ästhetisch hochwertige Einblicke in dieses Archiv über zahlreiche Reproduktionen und Fotographien, die die einzelnen Kapitel prägen und den Band zu einem wunderbaren „Bilderbuch der Wissenschaften“ machen. Der Band besteht aus zwei Teilen. Auf den ersten etwas mehr als 300 Seiten wird unter dem Titel The History of the Academy die Geschichte der Institution in sieben Kapiteln und unterteilt in vier Zeitperioden von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart erzählt. Von Henrik Björck und Thomas Kaiserfeld sorgfältig verfasst, wird zunächst die Organisation und die Mission der Akademie anhand der verschiedenen Statuten analysiert, danach folgt die Geschichte der materiellen Bedingungen – Mitglieder, Gebäude, Finanzierung –, um dann schließlich die Geschichte der Akademie als Wissenschaftsproduzentin und insbesondere als Wissenschaftsförderin darzustellen, welche die Wissenschaft in die breitere Gesellschaft tragen sollte. Zunächst über Spenden finanziert, erhielt sie, typisch für die Zeit ihrer Entstehung, Privilegien – genauer gesagt das Monopol, einen Kalender zu drucken. Dieses Monopol hatte die Akademie bis 1972 inne und erlaubte dadurch die Finanzierung zahlreicher Forschungsprojekte, Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen und Laboratorien in eigener Regie. Sein Ende führte zu einer grundlegenden Krise innerhalb der Akademie und einer größeren Abhängigkeit vom Staat und privaten Stiftern.

Der zweite Teil des Bandes, From the Archive, nimmt in 36 oft sehr kurzen Kapiteln, „Bildessays“ genannt, Fotos, Diagramme und Gegenstände zum Anlass, um Wissenschaft als kulturelle Praxis zu beleuchten und anhand verschiedener konkreter Forschungsprojekte und -praktiken auszubuchstabieren. Darunter finden sich etwa Beiträge zur Zeitmessung, zu Briefen aus aller Welt an das Nobelkomitee, zu Ökologie und komplexen Systemen, zur Nazizeit und zum Nobelpreis, astronomischer Kartographie, Aquarellmalerei, Wissenschaft und vielem mehr. Das Verdienst dieses zweiten Teils des Bandes ist es, oft erstaunliche und überraschende Einblicke in die Praxis der Forschenden zu werfen. Auch wenn das dadurch entstehende Panorama nicht vollständig ist, ja auch kaum werden kann, so lädt es doch zu weiteren Reflexionen über die Bedingungen der Wissenschaft weit über die Königliche Akademie hinaus ein.

Nach der Lektüre der beiden Bände sowie der anderen Publikationen, die im Rahmen des Lundenser Projekts veröffentlicht wurden, bleibt der Rezensent mit vielen interessanten Einblicken und Einsichten zurück, vor allem aber mit der Feststellung, dass die Wissensgeschichte durchaus ein fruchtbares Feld bleibt, das der weiteren Theoretisierung im gegenwärtigen medialen Umbruch bedarf. Dazu scheint es nicht zu passen, dass das Züricher Zentrum Geschichte des Wissens, das eines der Referenzen der Lundenser Historikerinnen und Historiker ist, sich zum Ende des Jahres 2021 selbst aufgelöst hat, da es „sein Ziel erreicht und dazu beigetragen [hat], die Wissensgeschichte als Ansatz in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu etablieren“.7 Vielleicht fängt die Arbeit erst an.

Anmerkungen:
1 Ich denke hier an die Arbeiten des Züricher „Zentrums Geschichte des Wissens“, aber auch an Peter Burke, A Social History of Knowledge. Cambridge 2000; David N. Livingstone, Putting Science in Its Place. Geographies of Scientific Knowledge, Chicago 2003; Bruno Latour, Changer de société – refaire de la sociologie, Paris 2006; Christian Jacob (Hrsg.), Lieux de savoir, 2 Bde., Paris 2007/11; Joachim Grage / Thomas Mohnike (Hrsg.), Geographies of Knowledge and Imagination. Philological Research on Northern Europe 1800–1950, Newcastle upon Tyne 2017. Natürlich ist diese Liste nicht komplett und vielleicht nicht einmal repräsentativ, sie hat nur exemplarischen Charakter.
2 Neben dem hier besprochenen Band: Johan Östling / Erling Sandmo / David Larsson Heidenblad / Anna Nilsson Hammar / Kari Nordberg (Hrsg.), Circulation of Knowledge. Explorations in the History of Knowledge, Lund 2018; Johan Östling / Niklas Olsen / David Larsson Heidenblad (Hrsg.), Histories of Knowledge in Postwar Scandinavia. Actors, Arenas, and Aspirations, Abingdon 2020.
3 Marshal MacLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962.
4 Mieke Bal, Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002.
5 Zum Begriff „tacit knowledge” siehe Michael Polanyi, Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago 1962. Allgemein zur Interaktion von „tacit knowledge” und „explicit knowledge” siehe Ikujiro Nonaka / Hirotaka Takeuchi, The Knowledge-Creating Company, New York 1995. Die Arbeiten des Lundenser Projekts Circle. Centre For Innovation Research sind hier zu konsultieren: https://www.circle.lu.se (09.01.2022).
6 Sten Lindroth, Kungl. Vetenskapsakademiens historia 1739–1818, Uppsala 1967.
7 Die Website des Züricher „Zentrums Geschichte des Wissens“ ist mittlerweile archiviert: http://www.zgw.ethz.ch/en/home.html (09.01.2022).